Autsch!!!
Erwischt – das kann doch nicht wahr sein! So etwas passiert doch sonst nur anderen!
Die Firma, für die ich 30 Jahre gearbeitet hatte, wurde an eine andere verkauft. Ja, sicher, Gerüchte hatte es immer mal wieder gegeben, nur glaubten wir ihnen nicht.
Der Konzern würde es schon richten, hieß es – wie immer, wenn wir vor Problemen standen. Diesmal nicht!
Sie stellten uns das neue Unternehmen vor, führten Übernahmegespräche. Langsam erwachte ich aus dem Albtraum und kam in der Realität an. Ich wägte ab, um die für mich richtige Form des Weitermachens zu finden: an einem anderen Ort oder beim neuen Arbeitgeber.
Ich entschied mich, zu dem neuen Arbeitgeber zu wechseln, um am Wohnort zu bleiben.
Plötzlich war ich von anderen Menschen, neuen Arbeitsweisen und Richtlinien umgeben. Mit Anfang fünfzig, nach den Blessuren meiner Vergangenheit, war der Aufbau der kaufmännischen Verwaltung ein gewaltiger Kraftakt.
Nach einem dreiviertel Jahr lief alles wieder in einem relativ ruhigen Fahrwasser. Der nächste „Tiefschlag“ ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Bekanntlich sind die Dinge ja steigerungsfähig.
Eines Morgens war ich nichts ahnend zur Arbeit gegangen und erhielt am Mittag die Kündigung!!! Das traf mich mit voller Wucht. Es war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggerissen.
Alle Frauen ab fünfzig hatten ihren Zweck erfüllt und durften gehen! Offiziell nannte man das „Rationalisierung des Arbeitsplatzes“, inoffiziell waren wir dem Unternehmen gehaltsmäßig zu teuer. Man setzte auf junges Personal, um die Lohnkosten zu reduzieren.
Was nun? Eben habe ich mich noch neu aufgestellt – und dann das: 54 Jahre alt, vertraut und erfahren mit Betriebssystemen, war ich für die Welt zu teuer. Mal ganz ehrlich, der erste Lack war mit 54 auch ab. Machen wir uns nichts vor: Meine Chancen, noch einmal einen adäquaten Job auf dem Arbeitsmarkt zu finden, tendierten gegen null.
Nebenher lief ein Arbeitsrechtsstreit gegen den vorherigen Arbeitgeber. Verträge waren nicht eingehalten worden. Eine sehr lange Zeit der Juristerei begann. Der Gegner schöpfte das Rechtssystem fast bis zum Ende aus. Es galt die ehemaligen Mitarbeiter mürbe zu machen, um den rechtmäßigen Verpflichtungen nicht nachkommen zu müssen. Ich befand mich in einer miesen „Daily Soap“. Der Kampf gegen Goliath kostete mich meine gesamten restlichen Kraftreserven – physisch und psychisch. Ich war völlig erschöpft. Doch, es sei gesagt, dass auch Goliath besiegbar ist!
Parallel hatte ich mit einem persönlichen Schicksalsschlag zu kämpfen.
Das alles konnte und wollte ich allein nicht verarbeiten. Mein Stimmungsbarometer hatte den Tiefstand erreicht. Ich spürte, wie ich in eine depressive Phase abglitt. Bitte nicht schon wieder, mit dem ganzen Mist war ich doch schon mal nach einem Schlaganfall konfrontiert worden. Ich wollte nicht erneut so tief fallen. Also setzte ich mich mit meinem Psychotherapeuten von damals in Verbindung. Eine Gruppentherapie gab mir Halt. Es gibt Schlimmeres als Arbeitslosigkeit, das Gefühl ausgenutzt zu werden und die Geringschätzung irgendwelcher Arbeitgeber. Langsam erholte ich mich wieder. Neben den Therapiesitzungen half mir auch ein Medikament.
Ich nenne es heute »Meine Glückspille«. Es hatte lange gedauert, bis wir Freunde wurden; ich war immer ein Gegner von medikamentösen Abhängigkeiten gewesen. Dank meiner Medikamente erlebe ich die Tage heute stressfreier und somit angenehmer. Wenn der Kopf selbst nicht mehr genug Glückshormone produzieren kann, braucht er eben ein bisschen Nachhilfe. C‘est la vie!
Jetzt galt es völlig neu zu denken. Was konnte ich, was wollte ich, was hatte mir als junger Mensch viel Spaß gemacht? Wenn schon bei null anfangen, dann doch mit Sachen, die mich interessieren.
Der Zufall kam zur Hilfe. Oder war es eine schicksalhafte Fügung? Esoteriker würden sicher auf das Letztere tippen.
Ein Zeitungsartikel berichtete von der schlechten Bezahlung der Integrationshelfer. Das war ja mal wieder typisch, dass helfende Berufe in der Rangliste der Gehälter ganz unten standen. Aber was machen Integrationshelfer eigentlich genau? Mein Interesse war geweckt. Ich erkundigte mich bei meiner Sachbearbeiterin vom Arbeitsamt, die mir das Berufsbild erläuterte.
Zum Schluss unseres Gespräches nannte sie mir einen Termin für eine Infoveranstaltung. Integrationshelfer wurden händeringend gesucht. Sie schlug vor, dass ich mir den Vortrag anhörte. Hochmotiviert ging ich dorthin. Beim Anblick der fast sechzig Teilnehmer, in der Mehrzahl viel jünger als ich, hätte ich beinahe wieder kehrtgemacht. Da ich aber fast grenzenlos Zeit hatte – ich war ja arbeitslos – dachte ich mir: Zuhören schadet ja nichts.
Schnell hatte der Referent meine volle Aufmerksamkeit. Es ging um Schulkinder.
Inklusion war der Leitfaden der Veranstaltung. Im Jahr 2009 war in Deutschland die Un-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung in Kraft getreten: Gleiches Recht auf Bildung für alle. Nicht alle lernen das Gleiche, sondern das ihnen Mögliche. Zehn Jahre hatte das Land Zeit, um die Schulsysteme dementsprechend umzustellen bzw. einzurichten. Die Struktur sollte sich den individuellen Bedürfnissen des Kindes anpassen. Kinder mit und ohne Behinderung sollten gemeinsam lernen. Passiert ist nach Aussagen des Referenten nicht viel. Wieder einmal reagierte das Bildungssystem sehr schwerfällig. Die Schulen schlugen seit Jahren Alarm, aber es passierte zu wenig. Der Umsetzungstermin rückte näher und plötzlich wurden Integrationshelfer eingestellt. Ich befand mich auf einer Werbeveranstaltung für diese Tätigkeit. Kinder mit Bedarf, wie sie gerne genannt werden, brauchen dringend Hilfe und Unterstützung im Ablauf des Schulalltags unter Berücksichtigung ihrer Einschränkungen.
Wer sich vorstellen konnte, mit diesen Kindern zu arbeiten, sei zu einem Einzelgespräch nach der Veranstaltung eingeladen. Ich blieb, schließlich ging es um Kinder. Von was für Einschränkungen wurde hier gesprochen? Ich wollte mehr wissen. Vor allem interessierte mich, wie sie unerfahrene Leute ohne sozialpädagogischen Hintergrund in das Gebilde einbeziehen wollten.
Die Ausbildung zum Integrationshelfer umfasste eine dreimonatige Ganztagsschulung und eine Abschlussprüfung. Referenten mit verschiedenen Schwerpunkten leiteten die Schulungen. Sie berichteten über die verschiedenen Formen der Einschränkungen, und davon, wie die Integrationshelfer in Einzelfällen zu agieren hätten. Da ich eine Frau mit bereits erwachsenen Kindern und einer gewissen Portion Lebenserfahrung sei, würde man sich freuen, wenn ich mich dafür entscheiden würde. Plötzlich merkte ich: Der Lack war noch lange nicht ab!!! Mein Alter war plötzlich eine Eingangstür. Man warb um meine Person als „Mensch/Mutter mit Erfahrung“. Und wieder einmal hatte das Leben das nächste Türchen geöffnet. Ich beschloss, an den Schulungen teilzunehmen und mich danach zu entscheiden, ob ich mich qualifiziert genug fühlte, um mit den kleinen Menschen zu arbeiten.
Unsere Lerngruppe stellte sich bald als eine lustige, sehr engagierte und alles hinterfragende Zusammenkunft heraus – zum Leidwesen der Dozenten. Es machte sehr viel Spaß. Wenn wir nicht damit einverstanden waren, wie wir in bestimmten Situationen mit den Kindern umgehen sollten, suchten wir die Diskussion. Oft hörten wir den Satz „Wir müssen jetzt aber weitermachen, sonst kommen wir mit der Zeit nicht aus“. Die Pausen entwickelten sich sehr früh zum Meinungsaustausch. Denn engagierte Frauen lassen die Dinge nicht einfach auf sich beruhen. Wir diskutierten weiter und nahmen nicht alles als sinnvoll hin.
Die Themen bezogen sich auf Kinder, bei denen Lernbehinderungen in der Kompetenz und in Verhaltensbereichen vorlagen. Autismus, AD(H)S, Legasthenie, Discallkuli, um einige Beeinträchtigungen namentlich zu nennen. Es handelte sich hier um einen „Crashkurs“ in der Sozialpädagogik.
Wir erwarben über die Erkennungsmerkmale diverser Verhaltensweisen Basiswissen:
Über Autisten, die nach Regeln leben, perfektionistisch veranlagt sind, über ein ausgeprägtes analytisches Denken verfügen und in ihrem Verhalten anderen gegenüber eine ausgeprägte Objektivität besitzen, grundsätzlich ehrlich und dabei verletzend geradeaus sein können, bei denen mangelnde soziale Interaktion zu beobachten sei und vieles mehr.
Über AD(H)S’ler, die unaufmerksam sind, Konzentrationsdefizite aufweisen, über eine mangelnde kognitive/emotionale Impulskontrolle verfügen oder hyperaktiv sind (allgemeine motorische Unruhe). Dies sind nur einige Kernsymptome der Beeinträchtigungen.
Alles kann, nichts muss! Wir lernten die Anzeichen bzw. Beeinträchtigungen und die damit verbundenen Reaktionen der Kinder kennen. Diese können sehr vielschichtig ausfallen. Reaktionen reichen von Schreiattacken, Verweigerung, dem Werfen von Gegenständen, Schlagen, Treten bis zu derber Gewalt (Faustschläge), oder dem Gegenteil; Introvertiert, nicht sprechend, ängstlich, sozial von anderen isoliert.
Alle Verhaltensweisen erschweren den Kindern eine unbeschadete Teilhabe in der Schule. Schnell werden die Betroffenen Opfer von Stigmatisierung. Sie erfahren Ablehnung, ständiges Zurechtweisen und die Ausgrenzung durch ihre Mitschüler. Genau das ist aber nicht im Sinne der Inklusion. Die Struktur sollte sich den individuellen Bedürfnissen des Kindes anpassen. Für Lehrer, die an der Einhaltung des Lehrplans gebunden sind, keine leichte Aufgabe. Hier kommen die Integrationshelfer ins Spiel. Sie unterstützen die Kinder so weit, dass sie dem Unterricht folgen können.
Leider gibt es auch Kinder, die nicht mehr beschulbar sind und die Schule verlassen müssen. Dies sind in der Regel die absoluten „Härtefälle“. Kindern, denen nur noch in Einrichtungen mit geschulten Sozialpädagogen und Psychologen zu helfen ist. Aber zurück zu den beschulbaren Kindern: Um mit dem Kind intensiv arbeiten zu können, sollte jeder Integrationshelfer zu ihm Zugang erhalten. Oder, wie ich es formulieren würde, das Vertrauen eines Kindes will erarbeitet sein! Grundsätzlich gilt doch, dass alle Kinder ernstzunehmen sind – ob mit oder ohne Beeinträchtigung! Die Wertschätzung dem Kind gegenüber sollte niemals verloren gehen. Das bedarf eines respektvollen Umgangs, Hilfsbereitschaft, Toleranz und der Bereitschaft, mit dem Kind Spaß haben zu wollen und gemeinsam mit ihm zu lachen, immer wieder lobend zu agieren und ihm seine Stärken zu zeigen.
Wenn das Kind das erste Mal von sich erzählt, ist der Knoten geplatzt. Die Tür ist geöffnet; jetzt kann die eigentliche Arbeit beginnen, sehr behutsam, denn eine Tür fällt schnell wieder zu! Verschiedene Anwendungstechniken wurden uns bei bestimmten Verhaltensmustern gezeigt. Es wurden Modelltechniken in Gruppenarbeit durchgespielt, die uns langsam begreifen ließen, dass es keine leichte Aufgabe sein wird. Bei den zu betreuenden Kindern handelte es sich hauptsächlich um eine Randgruppe kleiner Menschen, die von der Gesellschaft völlig falsch verstanden werden. In der alltäglichen, gesellschaftlichen Wahrnehmung gelten die Kinder als unerzogen, wild, dumm, aggressiv, nicht zu gebrauchen. Wie man längst weiß, liegen hier neurologisch bedingte Defizite vor, die in unserer Gesellschaft kaum bekannt sind. Von der Schulbehörde ist nicht nur die Umsetzung der Inklusion vernachlässigt worden, sondern auch die entsprechende Präventionsarbeit in den Schulklassen und der Öffentlichkeit. Nun sollte jeder von uns für sich herausfinden, mit welcher Altersgruppe und welcher Behinderung wir arbeiten wollten.
Für geistig behinderte Kinder an noch vorhandenen Förderschulen fehlten noch Integrationshelfer. Um unsere Entscheidung zu erleichtern, wurden wir für ein dreiwöchiges Praktikum auf mehrere Schulen verteilt.
Mir wurde ein Kind aus der vierten Klasse einer Grundschule zugewiesen, das aufgrund seines Verhaltens bereits einen Schulwechsel hinter sich hatte. Um es beim nächsten Schulwechsel in die fünfte Klasse zu unterstützen, sollte ich das Kind erst mal kennenlernen.
Mein Erstkontakt mit dem Kind – ohne zu wissen, dass es sich um das zu betreuende handelt – war sehr aufschlussreich. Er hänselte zwei Mitschüler mit dem Kinderreim „Ei, ei, was seh ich da, ein verliebtes Ehepaar. Erst ein Kuss, dann ist Schluss, weil die Braut nach Hause muss …“ und sah mich dabei lausbübisch grinsend an. Ich lachte und dachte mir: Was für ein süßer Lümmel. Ich sollte bald erfahren, dass dieser Lümmel es faustdick hinter den Ohren hatte. Ich wurde der Klasse vorgestellt und da saß er. Die Lehrerin unterbrechend rief er mir zu: „Hey, wir haben uns doch schon vorhin gesehen.“ Sofort wurde er durch die Lehrkraft gemaßregelt. Er möge bitte still sein und sie nicht unterbrechen. Ich horchte auf, denn die Tonart gefiel mir nicht. Ich beobachtete ihn ein paar Tage lang, um dann den direkten Kontakt aufzunehmen.
Wir führten lose, kleine Gespräche, und lernte ihn als sehr lebendigen Jungen kennen. In den Pausen versteckte er sich vor dem Aufsichtspersonal. Schon bald erkannte ich, dass das Kind bereits der Stigmatisierung ausgesetzt war. Meist hatte er das Gefühl, zu Unrecht getadelt worden zu sein. Seine Konzentration im Unterricht war leider nur kurzlebig. Ich machte der Klassenlehrerin den Vorschlag, mit ihm verschiedene Ansätze auszuprobieren. Dies wurde abgelehnt, er hätte sich dem Klassengefüge anzupassen und könnte ja vor die Tür gehen, falls er sich nicht mehr konzentrieren könne. Dann würde er die anderen zumindest nicht stören! Eine fragwürdige Form der Inklusion. Für mich glich das eher einer Ausgrenzung!
Dennoch machte mir der Umgang mit ihm und den anderen Kindern viel Freude. Die ersten Poesiealben wurden mir zum Ausfüllen übergeben, ich spielte mit den Kindern in den Pausen und schnell erzählten sie mir von ihren Erlebnissen. Mit dem Umgang, den die meisten Lehrer dem Kind gegenüber pflegten, war ich nicht einverstanden. Ich wollte nicht maßregeln, sondern verstehen! Da dieses Kind schon einige negative Erfahrungen im Umgang mit Erwachsenen hatte und somit kaum steuerbar war, lehnte ich die weitere Betreuung des Kindes ab.
Als ich meine letzte Stunde in der Klasse verbrachte, bat mich die Klassenlehrerin, ein paar Worte an die Kinder und speziell an ihn zu richten. Ich tat das gerne und lobte die Klasse für ihre starke Gemeinschaft. Als ich mich an den Jungen wandte, lobte ich seine Hilfsbereitschaft gegenüber anderen Kindern und noch einiges mehr. Denn meine Devise lautet: Durch Lob motiviert man Kinder und schenkt ihnen Wertschätzung, selbst, wenn es nur in banalen Dingen geschieht. Plötzlich stand er auf und fiel mir um den Hals. Er verharrte sehr lange in dieser Umarmung. Dies rührte mich zutiefst und bestärkte mich in meiner noch offenen Entscheidung, solchen Kindern helfen zu wollen. Doch wollte ich mit einem noch schulunerfahrenen Kind arbeiten. Altlasten hatte ich in meiner vorhergehenden Berufslaufbahn schon genug korrigieren dürfen.
Man akzeptierte meinen Wunsch und vermittelte mich an eine andere Grundschule.
Ein Erstklässler, der eingeschult werden sollte und ein Viertklässler brauchten Unterstützung. Ich bestand meine Abschlussprüfung und freute mich nach den Sommerferien, meine neue berufliche Laufbahn als Integrationshelferin anzutreten.
Es fand eine kurze Einweisung der Direktorin statt. Bei dem Erstklässler handelte es sich um ein Kind mit Autismus, bei dem Viertklässler um ein Kind mit ADHS. Man würde es begrüßen, wenn ich bei der Einschulungsveranstaltung des Autisten dabei sein könnte, um einen Erstkontakt zum Kind und seinen Eltern aufzunehmen. Ich war dabei und erlebte ein sehr schüchternes, verunsichertes Kind. Seine Augen signalisierten jedoch großes Interesse an mir. Für mich ein Hinweis darauf, dass die Arbeit beginnen konnte.
Er war neugierig. In den ersten Wochen unserer Zusammenarbeit lernten wir uns erst mal kennen. Ich gab ihm während des Unterrichts Zeit, mich unbemerkt zu betrachten und sich an mich zu gewöhnen. Ich hielt mich im Hintergrund, beobachtete nur und notierte. Zu Hause wertete ich meine Beobachtungen in Ruhe aus. Sein Hauptproblem lag in der sozialen Interaktion. Es war für ihn nicht möglich, Kontakt zu den anderen Kindern aufzunehmen oder ihn zu erwidern. Das war mein erster Ansatzpunkt. Ich zeigte ihm, wie man auf Freundlichkeiten reagierte und sie erwiderte. Ich erklärte ihm, dass in dem Wort Freundlichkeit das Wort Freund steckt und die anderen Kinder ihn als solchen gewinnen wollten. Er war sehr lernfähig und begriff, dass die Tipps ihm halfen. Er nahm sie gerne an. Nach dem ersten Schulhalbjahr hatte er drei feste Schulfreunde und bewegte sich mit ihnen selbstständig auf dem Pausenhof. Natürlich immer mit meiner Anwesenheit im Hintergrund. Denn diese, wie mir schnell bewusst wurde, schenkte ihm bei seinen Handlungen Sicherheit.
War er verunsichert, schaute er zu mir und nach meinem kaum merklich Nicken traute er sich, seine Gedanken in Handlungen umzusetzen. Das setzte natürlich voraus, immer in Blickrichtung zu bleiben. Es bereitete mir sehr viel Freude, seine kleinen Fortschritte zu beobachten.
Der Viertklässler hingegen erwies sich als „schwerer Fall“. Auch zu ihm gewann ich Zugang. Nur hatte dieses Kind leider keine behütete, familiäre Umgebung und kam schon morgens aggressiv in die Schule. Seine Impulskontrolle befand sich bei fast null und es kam täglich zu heftigen Schreiattacken, verbalen Obszönitäten und Gewalthandlungen an seinen Mitschülern. Nach der Schule wohnte er in einer sozialen Einrichtung, weil die Familie ihn nicht mehr steuern konnte. Ich habe noch nie so viel Aggressivität und Wut bei einem Kind gesehen, geschweige denn erlebt. Was hatte man diesem Kind nur angetan? Die Hilflosigkeit dem Jungen gegenüber und die nervliche Belastung brachten auch mich an meine Grenzen. Der Höhepunkt war erreicht, als der kleine Mensch sich regelrecht weg „beamte“. Er entzog sich seiner Umwelt und starrte fast eine Stunde lang auf eine Stelle. Selbst den Reflex der Augenlider hatte er eingestellt. Ich war zutiefst erschüttert. Diese Hilflosigkeit dem Kind gegenüber konnte und wollte ich nicht ertragen. Dass man mir als unerfahrenen Quereinsteiger ein extrem traumatisiertes Kind zuteilte, machte mich wütend. Um mich selbst zu schützen, setzte ich mir eine zeitliche Frist, um mir darüber klar zu werden, ob ich weiter machen wollte. Denn: Da war ja auch noch der Erstklässler, der meine Hilfe benötigte. Die Geschehnisse nahmen ihren Lauf und man beschloss nach intensiven Gesprächen mit den Eltern, dem Jugendamt und der Lehrerschaft, dass es besser sei, den Jungen vorübergehend in einem Kinderheim unterzubringen. Um ihn aus den prekären Familienverhältnissen zu nehmen, damit er zur Ruhe kommen konnte. Denn dieses Kind war, wie es im offiziellen Wortlaut heißt, nicht beschulbar. Ich möchte erwähnen, dass dem Kind der Ortswechsel sehr gutgetan hat. Seine häusliche Situation hat sich zum Positiven verändert und er wirkte bei einem zufälligen Wiedersehen äußerst entspannt und seinem Alter entsprechend.
Man teilte mir zwei weitere Kinder aus der Klasse zu; zwei, wie es hieß, besonders lernschwache Kinder. Rückblickend kann ich hierzu sagen, dass diese Kinder einfach durchs Raster gefallen waren, weil es zu wenig Integrationshelfer gab. Es waren zwei sehr aufgeweckte Jungs, die dankbar meine Hilfe angenommen hatten. Eine angehende Lehrerin im Referendariat bediente sich meiner Hilfe in einer weiteren Klasse. Auch hier gab es einen Jungen, der schwer steuerbar war. Da sie ihre Prüfung in dieser Klasse im Fach Englisch ablegte, erhoffte sie sich, durch meine Anwesenheit eine bessere, störungsfreie Teilhabe des Kindes am Unterricht zu ermöglichen. Auch bei diesem Kind lief der Erstkontakt sehr gut und schon bald erzählte er mir von seinem zu Hause und seinen Erlebnissen. Geduldiges Zuhören, lobende Worte und positiv formulierte Motivationen ließen den Jungen ruhiger werden und am Unterricht teilnehmen. Die Prüfung lief vorbildlich, die Anwärterin bestand ihre Prüfung mit Bravour. Und zu meiner großen Überraschung lobte man mich für meine gute Arbeit als Integrationshelferin. Wertschätzung …. Dieses so einfache Zauberwort hinterließ auch bei mir seine Wirkung. Ich widmete mich wieder mit Begeisterung meinen Aufgaben. Die Kinder und ich hatten sehr viel Spaß zusammen. Leider muss ich gestehen: Auch mitten im Unterricht. In manchen Situationen hatte ich meine Impulskontrolle nicht im Griff und lachte drauf los. Man mag es mir verzeihen.
Nun war ich in drei Klassen unterwegs und somit nicht dauerhaft bei dem Erstklässler-Kind. Seine Eltern beschwerten sich mehrfach bei der Schulleitung. In der Schule benahm sich das Kind unauffällig, zu Hause reagierte es aggressiv und unkontrolliert. Mir waren die Hände gebunden. Die Eltern mussten selbst eine Lösung finden. Die ließ nicht lange auf sich warten. Der Junge ging sehr gerne zur Schule, was mein Verdienst war und man fragte mich, ob ich mir eine dauerhafte 1:1 Betreuung (für ein Kind zuständig sein) während seiner gesamten Schullaufbahn vorstellen könnte. Ich bat um Bedenkzeit. Zuerst wollte ich mir die Familie und deren Umgebung ansehen, Gespräche mit den Eltern führen, und mich nach Schulungsangeboten für den Umgang mit Autisten erkundigen. Denn ein Kind in der Pubertätsphase zu betreuen, bedarf bei dieser Beeinträchtigung sicher noch weiteres Hintergrundwissen. Die Eltern erwiesen sich als sehr kooperativ, bemüht. Für mich war entscheidend, dass sie bereit waren, alles in der Macht Stehende zu tun, um es dem Kind an nichts fehlen zu lassen. Der häusliche Rahmen stimmte; die Chemie zwischen Eltern und mir auch. Bei den Schulungsangeboten über die Firma, bei der ich angestellt war, ist das leider nicht der Fall gewesen.
Für Autismus gab es schlichtweg keine weiteren Schulungen als das, was im Crashkurs gelehrt worden war.
Angesichts des Anspruchs, den ein Kind mit dieser Beeinträchtigung an Integrationshelfer stellt, war das sehr unbefriedigend.
Da mein persönlicher Anspruch grundsätzlich das Streben nach Vollkommenheit ist, hieß das für mich, selbstständig tätig zu werden. Ich begann, via Internet zu recherchieren und mir entsprechendes Buchmaterial zu besorgen. Es gab genug Fallstudien, Erfahrungslektüren usw. Ich musste nur bündeln. Das kostete mich viel Freizeit. Die Frage war: Wollte ich meine freie Zeit opfern? Meine langjährigen beruflichen Erfahrungen hatten mich eigentlich gelehrt, nicht mehr zu investieren als nötig ist. Bei mir galt seitdem als oberste Priorität der Eigenschutz. Aber es handelte sich um ein Kind. Ein Kind, das durch seine Einschränkung nicht den gesellschaftlichen Werten und Normen entsprach. Ein Kind, das eine völlig andere Sichtweise und Wahrnehmung auf sich und die Welt hat. Ein Kind, das sich nicht mit Banalitäten aufhält, ein Kind, dem menschliche Umgangs- und Verhaltensformen fremd und oft unsinnig erscheinen. Ein Kind, das intelligent ist und dennoch in seiner ihm eigenen Welt lebt. Aber auch dieses Kind möchte Freunde haben und die Welt der anderen verstehen lernen, um an ihr teilzuhaben. Es möchte so akzeptiert und gemocht werden, wie es ist. Mein Helfersyndrom ließ keine andere Entscheidung zu: Ich übernahm die 1:1 Betreuung des Kindes. Der Verwaltungsprozess setzte sich in Gang. Ich befand mich plötzlich in Gruppengesprächen, in denen über den Werdegang des Kindes beratschlagt und beschlossen wurde. Es dauerte tatsächlich fast ein halbes Schuljahr, bis alle Gremien und Ämter durchlaufen waren. Ich hatte mal gelernt, dass das Kindeswohl an erster Stelle steht. Wenn ich mir die Mühlen des Systems anschaue, hatte ich wohl etwas missverstanden. Nun denn, ab Klasse zwei gab es das Kind und mich nur noch im Doppelpack.
Es begann die Zeit des Vertrauensaufbaus in intensiver Zusammenarbeit. Schnell begriff ich, dass hier erst Nachteilsausgleiche eingefordert werden mussten, um dem Kind eine ihm gerechte Teilhabe am Unterricht zu ermöglichen. Diese bestanden z. B. darin, das Kind bei eintretender Überforderung für eine bestimmte Zeit aus dem Unterricht zu nehmen und dafür Sorge zu tragen, dass es einen Raum für die Hausaufgabenbetreuung zur Verfügung gestellt bekam. Unerlässlich war auch die Einzelbeförderung zur Schule, um für das Kind die Geräuschkulisse vor Schulbeginn zu minimieren. Denn der Schulalltag eines Kindes verläuft mit dem Beginn des Tages. Stellen sich bereits Störungen im häuslichen Ablauf oder auf dem Schulweg ein, setzt bei einem Autisten meistens 1-2 Stunden später die Wiederverarbeitung ein.
Diese Themen sollten sofort besprochen werden, um eine vollständige Blockade des Jungen zu vermeiden.
Seine für ihn größte Beeinträchtigung lag in der sozialen Interaktion. Viele behutsame Gespräche mit ihm lassen ihn heute gesichert und gestärkt mit seinen Mitschülern umgehen. Ein Autist denkt logisch, rational und kann somit viele Verhaltensmuster der anderen nicht verstehen. Ständige Anleitung und Führung in den Handlungsabläufen des Jungen haben ihn lernen lassen und letztlich zu einem enormen Erfolg in kurzer Zeit geführt (wir befinden uns heute in Klasse drei). Dazu ist zwingend notwendig, dass ich ehrlich bin. Wenn es mir nicht gut geht, erkläre ich ihm das. Dann versteht er es, wenn ich an solchen Tagen nur wenig Geduld mit ihm habe. Meine Ehrlichkeit hat bei ihm unerschütterliches Vertrauen ausgelöst und uns zu einem tollen Team reifen lassen. Der Junge ist in der Klasse sehr gut integriert, er hat viele Spielfreunde und geht mit großer Freude zur Schule. Auf dem Schulgelände und im Schulgebäude bewegt er sich völlig frei. Sein persönlich größter Erfolg liegt in seiner Wahl zum Klassensprecher; und das geschah sogar mit großer Stimmenmehrheit. Stetige lobende Motivation zu Handlungen mit Erklärungshilfen haben aus ihm ein selbstbewusstes Grundschulkind gemacht.
Seine Entwicklung geht mittlerweile sogar so weit, dass er für seine Mitschüler Empathie entwickelt. Er stellt sich vor, was andere in bestimmten Situationen denken oder fühlen würden. Nun mag das für viele nichts Besonderes sein. Ich möchte die fortschrittliche Entwicklung des Kindes anhand eines kleinen Rückblicks verdeutlichen.
In Klasse Eins war das Kind nicht in der Lage, auf Höflichkeitsformen zu reagieren, geschweige denn, sie anzuwenden. Es erschien ihm schlichtweg unsinnig, sich für etwas zu bedanken, was man ihm schon gegeben hatte. Der Vorgang war schließlich abgeschlossen.
Das Wort „bitte“ war für ihn ebenfalls völlig unlogisch. Warum sollte man dieses Wort gebrauchen, wenn es doch nicht auf das hinweist, was er haben möchte. Um es mit den Worten des Kindes zu sagen: Ein Wort, das völlig „überflüssig“ ist.
So ganz unrecht hatte er nicht. Ich begriff, dass er über ein ganz anderes Denkmuster verfügt.
Total spannend, weil ich ihm in vielen Dingen durchaus recht geben musste. Wir haben über verschiedene Umgangsformen kleine Diskussionen geführt, die mir und auch ihm sehr viel Spaß machten. Heute diskutieren wir auch über Handlungen und Denkweisen von Mitschülern und Lehrern; was uns ebenfalls viel Freude macht. Mehrfach stellt er Unterrichtsthemen infrage: „Wer braucht denn so etwas?“ oder: „Warum soll ich drei verschiedene Rechenschritte lernen, wenn mich einer zum Ergebnis führt?“
Ja, warum eigentlich? Warum soll er Rechenweisen erlernen, die ihn nur verwirren und nicht zum Ergebnis führen; seine eigenen aber wohl. Viele Wege führen nach Rom. Wenn man seinen gefunden hat, ist es doch in Ordnung. Auch hier wurde nach langem Ringen mit der Schulleitung ein Nachteilsausgleich erreicht.
Das größte Geschenk, was der Junge mir machte, war sein Verhalten nach den Worten der Klassenlehrerin über eine anstehende Klassenfahrt der Klasse Vier.
Er hörte sehr aufmerksam zu, sammelte die für ihn wichtigen Informationen und drehte sich zu mir um. Mit absoluter Entschlossenheit sagte er: „Das machen wir!“. Ich war sehr gerührt und es erfüllte mich mit Stolz, wie weit er in seiner Entwicklung gekommen war. Als er mit seiner Familie ein Jahr vorher für vier Wochen zur Kur sollte, habe ich viele aufbauende Gespräche mit ihm geführt, um ihm seine Ängste für so eine Reise zu nehmen. Denn für einen Autisten ist ein räumlicher Wechsel und die damit mit sich bringenden, fremden Menschen eine fast unüberwindbare Hürde.
Die Klassenfahrt betrachtete er nun als eine Herausforderung, der wir uns gemeinsam stellten.
Ich freue mich auf die kommende gemeinsame Zeit mit ihm. Auf die sozialpolitischen Diskussionen in späteren Schuljahren, weiterhin an seiner Entwicklung teilzunehmen, auf das gemeinsame Lachen, auf die Augenblicke, wenn er mich anstrahlt und diese vollkommene Ehrlichkeit untereinander, die uns beide verbindet. Sicher ist es oftmals eine große Herausforderung, seinen Gedankengängen zu folgen, oder auf seine Wutausbrüche bei Überforderung zu reagieren, aber gerade das macht die Arbeit mit ihm so lebendig und interessant.
Abschließend möchte ich sagen: Hätte ich schon viel früher gewusst, wie wertschöpfend diese Arbeit ist, hätte nicht mein damaliger Arbeitgeber mir gekündigt, sondern ich ihm. Obwohl ich sehr harte Zeiten durchlebt habe, betrachte ich sie heute als persönliche Weiterentwicklung. Professionelle Hilfe, Ehrlichkeit mit mir selbst (nicht immer andere für Negatives verantwortlich machen), gesundheitliche Einschränkungen zu akzeptieren und lernen anders zu leben, aber auch ein Einlassen auf mich selbst, haben mich neue Wege beschreiten lassen. Wege, die meinem eigentlichen Naturell entsprechen und lange zweitrangig vor sich hin schlummerten. Die Arbeitslosigkeit und den damit finanziellen Verlust der Unabhängigkeit haben mich tief fallen lassen. Viele Spaziergänge in der Natur, der Blick auf kleine Dinge und die Maßstäbe nicht mehr so hoch anzusetzen, haben mich zu neuen Denkweisen geführt. Mich meinen Ängsten zu stellen und zu hinterfragen, ob die Dinge wirklich so wichtig sind, um an ihnen festhalten zu müssen, sollte der Beginn des neuen Weges sein. Mich zu trauen, in kleinen Schritten, Neues zu entdecken, verwandelten viele kleine Schritte in einen großen.
Mein „neuer“ beruflicher Werdegang ist rückblickend eigentlich ein „alter“. Nach dem Abitur hätte ich gerne Psychologie oder Pädagogik studiert, doch hatte ich dann meinen Mann kennengelernt und eine andere Richtung eingeschlagen: Familienplanung stand an und neben meiner Berufstätigkeit, Hausarbeit und dem Familienmanagement gab es kaum Zeit für persönliche Interessen. Sie verblassten. Die dauerhafte Stressbelastung über Jahre hinweg hatten mich an meine gesundheitlichen Grenzen gebracht. Ein „Weiter so“ war nicht mehr möglich, ohne weitere Einschränkungen zu provozieren. Die persönliche Klausur mit mir hat mich wieder auf den Pfad des Eigentlichen gebracht. Mein Interesse für Menschen und deren Verhaltensmuster – was ich als junge Frau gerne beruflich vertieft hätte – fand seine Erfüllung. Für die Betreuung der Kinder mit Bedarf erfordert es nämlich sowohl pädagogischer Ansätze als auch psychologischer, um ihnen zielführend helfen zu können.
Der Kreis hat sich geschlossen.
N.Janssen
Hallo liebe Community!
Mein Name ist Julia, ich bin 25 Jahre alt und das hier ist meine, „Story of life“ – mein persönliches Why!
Seit einigen Jahren bin ich psychisch erkrankt. Ich habe eine Depression, eine Angst-, eine Zwangs- und nun auch eine Essstörung. Diagnostiziert wurde alles nach und nach im Laufe der Zeit – meine Krankheitsgeschichte hatte allerdings schon in jungen Jahren begonnen, d.h. in meiner Kindheit. Es gab seitdem viele „Aufs und Abs“ und ein paar entscheidende Wendepunkte – sowohl positive wie auch negative. Aber von Anfang an:
Ich bin als Einzelkind in einer gut funktionierenden und wunderbaren Familie aufgewachsen. Meine Eltern haben mich mit sehr viel Liebe und Geborgenheit erzogen, es hat mir nie an etwas gefehlt und ich war ein sehr glückliches Kind. Schon immer haben wir offen über alles gesprochen – Ehrlichkeit und Respekt standen immer an erster Stelle. Natürlich gab es auch in unserer Familie Streitigkeiten und Dinge, die nicht rund gelaufen sind – allerdings nicht mehr oder weniger als in jeder anderen Familie auch. Wirklich schlimme Dinge (und solche, die „nicht für Kinder gemacht“ sind) haben meine Eltern immer von mir ferngehalten. Ich war gut in der Schule, hatte viele Freundinnen und erlebte eine rundum unbeschwerte Kindheit.
Irgendwann kam dann das erste einschneidende Erlebnis, das rückblickend wohl der Grundstein meiner psychischen Erkrankungen ist. Gemeinsam mit einer damaligen Freundin war ich in einem „Kinderland“ eines bekannten Möbelhauses. Wir vertrieben uns die Zeit im Bällebad, während unsere Eltern einkauften. Wir waren nicht das erste Mal dort. Wir liebten es und fieberten regelrecht darauf hin.
An diesem Tag waren wir plötzlich alleine. Alleine mit einem Mann, der eigentlich auf uns hätte aufpassen sollen. Stattdessen hat er sich an uns vergriffen. Eine nach der anderen hat er uns zu sich gerufen und uns sexuell missbraucht. Ich erinnere mich an jedes seiner Worte, an sein zynisches „Nicht gucken!“, als er meine Freundin holte, an sein widerwärtiges Grinsen, an seine abartigen Blicke. Er maßregelte und verbot uns, mit unseren Eltern darüber zu sprechen oder nur ein einziges Wort gegenüber jemandem darüber zu verlieren. Meine Freundin war zutiefst eingeschüchtert und wollte sich daran halten – aber ich hatte gelernt, dass wir immer offen und ehrlich über alles reden. Ich hatte nie Geheimnisse vor meinen Eltern und wusste, dass ich immer mit allem zu ihnen kommen konnte. Natürlich hielt ich mich nicht an das, was der böse Mann von uns verlangt hatte – einige Tage später vertraute ich mich meinen Eltern an, während ich gebadet wurde. Alles nahm dann seinen Lauf, meine Eltern informierten die Polizei, es ging vor Gericht. Der Täter erhielt eine abartig milde Strafe. Er kam wirklich gut dabei weg und lebte sein Leben weiter – wir mussten das auch. So traurig das klingt: Mehr konnte man leider nicht machen. Ich habe das alles gut verarbeiten können – zumindest dachte ich das – und lange Zeit spielte dieses Erlebnis keine große Rolle mehr für mich.
Das Leben ging weiter, es folgten viele schöne, aber auch schwere Erlebnisse. Kurz nach der Tat, als ich sechs Jahre alt war, verstarb mein Onkel – sein Tod riss ein riesiges Loch in unsere Familie. Ich hatte zu ihm immer eine enge Bindung. Sein Verlust zeichnete uns alle schwer. Vor allem meiner Mama riss es den Boden unter den Füßen weg. Danach veränderte sich in unserer Familie einiges – leider nicht zum Positiven. Kontakte rissen ab, Streitpunkte, Ungereimtheiten usw. häuften sich. Traurig, aber wahr. Meine Kernfamilie allerdings hat immer zusammengehalten.
Die Jahre vergingen und die größte Last, die ich kontinuierlich mit mir herumschleppte, war mein Übergewicht. Ich war schon immer die „Dicke“ gewesen, die geärgert und gehänselt wurde. Ich war nie die Beliebteste gewesen, hatte zwar wie gesagt viele Freundinnen, gute Noten etc. aber gehörte nie zu denen, die man irgendwie grundsätzlich mochte.
Wenn du in die Pubertät kommst und dich mehr mit dir und deinem Körper beschäftigst, dann tun das auch die anderen. Die Blicke werden kritischer, man urteilt und beobachtet. Man lästert, man demütigt. Ich habe oft versucht, abzunehmen, aber wie es halt so ist, kamen die Pfunde schneller wieder drauf, als ich gucken konnte.
Als ich ungefähr 14 war, begann eine sehr schwere Zeit für mich. Aus heutiger Sicht hatte ich definitiv die falschen Freunde, aber damals war mir das noch nicht (sofort) bewusst. Alles bisher erlebte, mein Selbsthass, die falschen Kontakte und ein paar andere Dinge führten dazu, dass es mir immer schlechter ging. Es gab einen sehr großen Bruch in meinem Freundeskreis: Ich wurde verstoßen und es wurden Leute auf mich gehetzt. Letztendlich hatte ich nicht nur Selbstmordgedanken, sondern habe auch ein paar Mal aktiv versucht, mir das Leben zu nehmen.
Es war eine sehr bedrückende und schwere Zeit und ich war fest entschlossen, mein Leben zu beenden. Erst heute weiß ich, was ich meinen Eltern damit eigentlich angetan habe. All das endete, als ich mein erstes Tattoo bekam. Diese Kunst hat mich schon immer fasziniert und so entschieden meine Eltern, dass wir uns gemeinsam ein Familientattoo stechen und somit ein Zeichen setzen sollten. Ich versprach ihnen weiterzumachen und keine Suizidversuche mehr zu unternehmen. Man könnte meinen, die Kuh war vom Eis – aber die Gefühle in mir blieben.
Als ich 15 war, lernte ich unverhofft meinen Mann kennen. Ich hatte weder an ihm noch an einer Beziehung Interesse, denn ich war bereits einige Male schwer enttäuscht und verletzt worden. Das Schicksal aber hatte Pläne für uns – und so begann für mich ein neues Leben. Der Mann ließ nicht locker, er hat um mich gekämpft und mich schließlich auch für sich gewonnen. Ich kann definitiv sagen: Er hat mich gerettet. Suizidgedanken habe ich seitdem nicht mehr. Heute sind wir schon über zehn Jahre ein Paar, man könnte sagen, wir sind zusammen groß geworden. Wir haben unsere Realschulabschlüsse zusammen gemacht, unseren Führerschein, unser Abitur, unsere Ausbildungen und sind irgendwann in unsere erste gemeinsame Wohnung gezogen, haben unseren jeweils ersten Job angetreten und alle kleinen und großen Meilensteine zusammen erlebt, die man in diesem Alter so erleben kann.
Als ich mitten in den Vorbereitungen für meine Abitur-Prüfungen steckte. verstarb mein Opa an Krebs. Ich bin der festen Überzeugung, dass ich das nie wirklich verarbeitet habe.
Meine Ausbildung war nicht besonders gut – auch wenn ich sie mit der Note 1 abgeschlossen habe. Mein sog. Ausbilder war ein richtiger Tyrann und ein Unmensch wie er im Buche steht – psychische Gewalt stand auf der Tagesordnung.
Hinzu kam, dass ich immer schon sehr hohe Ansprüche an mich selbst hatte und dadurch unter enormem Druck stand. Leider bin ich die geborene Perfektionistin.
Ende 2018 kam erneut ein kleiner Schicksalsschlag und damit mein persönlicher Klick-Moment. Ich war auf dem Weg zu Arbeit, als mein unaufmerksamer Hintermann mir ungebremst aufs Auto auffuhr und mein geliebtes erstes eigenes Auto zu einem Totalschaden schrottete. Dieser große Knall löste in mir etwas aus. Alles, was sich die Jahre über in mir aufgestaut hatte, alles, was immer weiter gewachsen war – die Ängste, die Zwänge, die Trauer, die Verzweiflung – alles brach immer öfter und immer mehr aus mir heraus. Es häufte sich ins Unermessliche und die folgenden Monate waren der blanke Horror. Irgendwann saß ich weinend bei uns am Küchentisch und sagte zu meinem Mann: „Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich möchte so nicht weitermachen.“
Im Mai 2019 setzte ich den Startschuss und nahm mit einer Ernährungsumstellung und Sport ganze 34 kg ab. Außerdem entschied ich mich, wieder eine Therapie zu machen (in meiner Jugend hatte ich bereits ein paar Sitzungen bei einer Kinder- und Jugendpsychologin wahrgenommen). So weit so gut.
Im Juli des gleichen Jahres ging mein größter Traum in Erfüllung: Im Eiffelturm in Paris machte mein Mann mir einen bilderbuchhaften Heiratsantrag, auf den ich schon so lange gewartet hatte. Ich war plötzlich wie beflügelt, hatte gute Abnehmerfolge, fand Spaß an Sport und Bewegung, war glücklicher als je zuvor – und bekam dann den nächsten Schlag ins Gesicht. Durch einen geschädigten Nerv im Bein bekam ich eine Lähmung im Fuß und mein heiß geliebter Radsport war vorerst nicht mehr machbar. Was mir blieb, war die Ernährung und das akribische Abwiegen und Kalorienzählen. Meine Therapie wollte ich zwischenzeitlich schon pausieren – denn ich hatte wirklich das Gefühl, dass ich über den Berg war.
Dann kam die Pandemie und und sorgte für den nächsten Absturz: Unsere Hochzeit – unser allergrößter Traum – stand plötzlich auf der Kippe. Alles drohte zu zerplatzen – alles, was wir monatelang mit so viel Liebe, Zeit und Hingabe geplant hatten, war gefährdet. Ich weinte jeden Tag und konnte nicht mehr schlafen und an etwas anderes denken.
Dazu kam die Sorge um unsere Familie. Bleiben alle gesund? Wie schaffen wir das alles? Was würde noch passieren? Wie würde es weitergehen? Wie gefährlich ist das alles? Diese ganze Ungewissheit hat mich komplett fertiggemacht.
Unsere freie Trauung konnte tatsächlich nicht stattfinden und die standesamtliche mussten wir mit vielen Abstrichen und Kompromissen feiern. Trotzdem war es der schönste Tag meines Lebens – denn ich habe schließlich die Liebe meines Lebens geheiratet. Dennoch ist die traurige Wahrheit: Nach diesem Tag bin ich eingebrochen.
Der Terror in mir wuchs. Meine Ängste wurden größer, mächtiger, häufiger. Meine Zwänge nahmen zu. Meine Depression verschlimmerte sich. Und ich bin langsam aber sicher in eine Essstörung gerutscht, gelte mittlerweile als anorektisch.
Anfangs konnte ich das alles noch irgendwie stemmen – ich meisterte meinen Alltag, ging zur Arbeit und ließ mir meist nichts anmerken. Viele Jahre fielen meine Einschränkungen niemandem auf. Für die meisten war ich die taffe junge Frau.
Irgendwann konnte ich dem nicht mehr standhalten. Ich brach immer häufiger zusammen, verlor die Kontrolle über mich selbst und schaffte es nicht mehr, meinen Verpflichtungen ordnungsgemäß und guten Gewissens nachzukommen. Ich begann, offener damit umzugehen, und sprach meine Erkrankungen im Freundes- und Bekanntenkreis ehrlich an, wenn es notwendig war – denn es gab immer mehr Dinge, die ich nicht mehr schaffte.
Wie das Leben so ist, habe ich dadurch nicht nur gewonnen – oft fühlt es sich sogar nach dem Gegenteil an.
Menschen kehrten mir den Rücken zu und ließen mich fallen, nur weil ich nicht mehr funktionierte. Man betrachtete mich mit anderen Augen und distanzierte sich von mir. Ich erkannte immer mehr, wer wirklich zu und hinter mir stand und welche Beziehungen mehr Schein als Sein waren. Ich musste einsehen, dass ich den Großteil meines Lebens mit falschen Menschen verbracht hatte und mein Freundeskreis merklich kleiner war, als ich bisher angenommen hatte. Zum Glück gibt es natürlich auch Ausnahmen: Meine Familie steht immer hinter mir. Ich bekomme von ihr die beste Unterstützung, die ich mir wünschen kann.
Wie sieht mein Leben jetzt aus?
Seit einigen Monaten bin ich arbeitsunfähig. Ich kann kaum das Haus verlassen und wenn ich es dann doch tue und wieder heimkomme, muss ich mich akribisch waschen und schrubben und alles desinfizieren. Ich habe Angst vor Keimen, Bakterien und Krankheiten. Ich habe Angst, dass etwas Schlimmes passiert und ich vielleicht daran Schuld habe. Ich habe ein übermäßiges Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle. Von einem normalen Alltag bin ich meilenweit entfernt, denn diese Ängste und Zwänge bestimmen mein Leben.
Ich habe Albträume, Panikattacken, bin innerlich nur noch unruhig. Ich spüre einen unheimlichen Druck in mir, komme kaum noch zur Ruhe, bin eigentlich immer nur am Nachdenken, am Grübeln, mache mir Sorgen um alles und jeden. Ich habe schlimme Verlustängste und kann schlecht alleine sein.
Es gibt Tage, an denen ich nur weine, und dann gibt es welche, an denen ich gar nicht mehr weinen kann. Ich bin antriebslos, erschöpft und müde von allem. Ich entfremde mich immer mehr vom Leben und auch von mir – manchmal erkenne ich mich selbst kaum wieder. Selten empfinde ich so etwas wie aufrichtige Freude, ich sehe kaum noch Bedeutung in irgendwas. Meistens fühle ich kaum noch etwas – und dann wieder alles auf einmal. Alles kostet mich unheimliche Kraft – selbst Kleinigkeiten sind eine riesige Herausforderung für mich. Jeden Morgen hoffe ich, dass ich den Tag irgendwie und vor allem schnell hinter mich bringen kann. Ich fühle mich verloren. Zerrissen und ausgebrannt. Einfach leer. Ich habe lebensmüde Gedanken – an Suizid denke ich jedoch nicht mehr. Die Liste könnte ich noch ewig so weiterführen.
Meine Erkrankungen sind wie ein innerer Tyrann – ein kleiner Machthaber, der mich steuert und macht, was er will. Es fühlt sich an wie ein riesiges schwarzes Loch, in das ich immer weiter hineingezogen werde und mir wird immer mehr bewusst, dass meine Probleme viel größer sind, als ich es manchmal glaube und vielleicht wahrhaben möchte. Man könnte sagen: Ich kämpfe jeden Tag um und für mein Leben.
Was mir Hoffnung gibt und den Mut weiterzumachen, das ist meine Familie. In erster Linie mein Mann, meine Eltern und unsere Hunde. Sie sind mein allergrößter Halt und alles, was mir im Leben noch wirklich wichtig ist.
Seit etwas mehr als einem Jahr bin ich medikamentös eingestellt und erlebe dadurch zumindest eine kleine Besserung. In mir aber brodelt es weiter. Ich merke, dass meine Gefühle etwas unterdrückt – aber lange nicht beseitigt sind. Ich bin nach wie vor in Therapie und habe nun endlich den richtigen Therapeuten gefunden.
Außerdem führe ich bei Instagram eine Art Online-Tagebuch und mache unter dem Namen Kopfkrawalle auf psychische Erkrankungen aufmerksam, um zu entstigmatisieren.
Mein Wunsch ist es, dass wir irgendwann offener über unsere Psyche reden können, und dass man sich als Betroffene:r nicht mehr schämen muss, wenn man erkrankt ist. Wir sind keine Menschen zweiter Klasse und nicht weniger wert!
An allen Ecken und Enden fehlt es an Aufklärung, an Toleranz und auch an Unterstützung! Man wird degradiert, ausgegrenzt und verstoßen, wenn man psychisch erkrankt ist – das muss einfach ein Ende haben. Mit meinem Account versuche ich einen kleinen Teil dazu beizutragen. Wir sind keine „Psychos“, wir sind nicht „irre“ oder „komisch“! Wir sind nicht „anders“ – zumindest nicht mehr als jede:r andere auch.
Ich möchte meine Stimme und meine Erfahrungen als Betroffene nutzen und anderen Menschen Mut machen und das Gefühl geben, dass sie nicht alleine sind – auch wenn es sich meistens so anfühlt. Wir sind sehr viele.
Wer immer das hier liest (und ich freue mich, wenn du bis hierhin gekommen bist!): Schäme dich nicht, zu deiner Erkrankung zu stehen. Du bist wertvoll – egal was du durchmachst. Es gibt Hilfen und niemand sollte da alleine durch. Sei mutig und traue dich, diese Hilfe anzunehmen! Bleib stark und pass auf dich auf!
– Julia